Hat die Richtsatzsammlung ausgedient?
Bundesfinanzhof äußert deutliche Kritik
Betriebsprüfer hatten bislang für die Schätzung der Gewinne schnell die amtliche Richtsatzsammlung zur Hand, wenn buchführungspflichtige Unternehmen keine Bücher geführt hatten oder diese mit so schweren Mängeln behaftet waren, dass sie verworfen wurden. Doch schon seit Jahren regte sich aufgrund der Intransparenz der der Richtsatzsammlung zugrunde liegenden Daten Kritik an deren Anwendung. In seinem Urteil vom 18. Juni 2025 (X R 19/21) hat der Bundesfinanzhof (BFH) die Anwendung der Richtsatzsammlung zwar nicht für unzulässig erklärt, jedoch starke Kritik geübt.
Richtsatzsammlung als Schätzgrundlage
Die Richtsätze sind ein Hilfsmittel für die Finanzverwaltung, um Umsätze und Gewinne von Unternehmen zu verproben und ggf. zu schätzen. Sie sind für die einzelnen Gewerbeklassen auf der Grundlage von Betriebsergebnissen zahlreicher geprüfter Unternehmen ermittelt worden. Sie gelten nicht für Großbetriebe. Die Richtsätze stellen auf die Verhältnisse eines Normalbetriebs ab. Darunter versteht die Finanzverwaltung ein Einzelunternehmen mit Gewinnermittlung durch Bilanzierung.
Ist die Buchführung eines Unternehmens formell ordnungsgemäß, darf aber nicht einfach geschätzt werden, nur weil Gewinne und/oder Umsätze von der Richtsatzsammlung abweichen. Werden jedoch für ein Unternehmen, für das Buchführungspflicht besteht, keine Bücher geführt, oder ist die Buchführung nicht ordnungsmäßig, so ist der Gewinn unter Berücksichtigung der Verhältnisse des Einzelfalles und unter Umständen unter Anwendung von Richtsätzen, zu schätzen.
Veranschaulichung für einen Imbissbetrieb
Ein Imbissbetreiber erzielt im Jahr 2023 einen Jahresumsatz von 200.000 Euro. Der Wareneinsatz beträgt 40.000 Euro. Daraus ergibt sich ein Rohgewinn von 160.000 Euro. Die weiteren Betriebskosten betragen 130.000 Euro, sodass sich ein Gewinn von 30.000 Euro ergibt. Der Rohgewinnaufschlagsatz beträgt in unserem Beispiel demzufolge 400 Prozent und die Gewinnmarge (Reingewinnsatz) beläuft sich auf 15 Prozent.
Die Richtsatzsammlung für 2023 weist folgende Werte aus:
| Kennzahl | Beispiel | Richtsatz 2023 (über 100.000 € Umsatz) |
Bewertung | |
| Rohgewinnaufschlag | 400 % | 144 – 355 % (Mittelsatz 213 %) | deutlich über dem Richtwert | |
| Gewinnmarge (Reingewinn %) | 15 % | 8 – 39 % (Mittelsatz 24 %) | im unteren Mittelfeld | |
Der Rohgewinnaufschlagsatz liegt über dem oberen Richtsatzwert, der Gewinnsatz liegt innerhalb der Bandbreite, aber unterhalb des Mittelsatzes. Das bedeutet: Der Imbissbetreiber erzielt zwar sehr hohe Aufschläge auf den Wareneinsatz, hat aber vergleichsweise hohe übrige Kosten (z. B. Miete, Personal, Energie), die den Gewinn drücken. Das Finanzamt würde hier vermutlich weitere Erläuterungen zu den betrieblichen Besonderheiten anfordern.
Kritikpunkte des Bundesfinanzhofes an der Anwendung der Richtsatzsammlung
Zunächst ist festzuhalten, dass der BFH auch weiterhin den äußeren Betriebsvergleich (also den Vergleich mit anderen Unternehmen gleicher Art und Größe) für eine in der Praxis bei Betriebsprüfungen anerkannte und notwendige Schätzungsmethode hält. Auf diese Schätzmethode darf zurückgegriffen werden, wenn andere, tendenziell genauere Methoden unter den besonderen Bedingungen des Einzelfalls nicht zur Verfügung stehen oder nicht anwendbar sind. Der äußere Betriebsvergleich soll also nachrangig sein.
Für den BFH bestehen jedoch erhebliche Zweifel, ob die amtliche Richtsatzsammlung in ihrer bisherigen Form eine geeignete Grundlage für einen äußeren Betriebsvergleich darstellt. Das Finanzamt darf seine Schätzmethode zwar grundsätzlich frei wählen. Sie muss jedoch die Methode wählen, die am wahrscheinlichsten zum genauesten und der Wirklichkeit entsprechenden Ergebnis führt.
Der BFH hat diese Zweifel, da die Daten statistisch nicht repräsentativ sind und bestimmte Gruppen und Betriebe von vornherein aus der Sammlung der Richtsätze ausgeschlossen werden. So werden Verlustbetriebe nicht berücksichtigt. Doch auch in einem „normalen“ Betrieb können Verluste entstehen. Die gezielte Herausnahme von Verlustbetrieben führt nach der Argumentation des BFH zu einer verzerrten Zufallsstichprobe in deren Folge sich die Richtsatzspanne nach oben verschiebt.
Und dies, obwohl ohnehin bei der Ermittlung der Richtsätze die jeweils 10 Prozent der Betriebe mit den höchsten und niedrigsten Rohgewinnaufschlagsätzen außer Betracht bleiben Der BFH argumentiert, dass damit im Zweifel bereits nahezu sämtliche Betriebe außen vor bleiben würden, bei denen sich auch nach Durchführung einer Außenprüfung noch ein Verlust ergibt. Die doppelte Kappung des unteren Rahmens der Richtsätze führt nach Ansicht des BFH zu einer weiteren Verfälschung der ermittelten Werte.
Zusätzlich zur Nichtberücksichtigung von Verlustbetrieben äußert sich der BFH auch zu der Problematik der Zufallsauswahl, die für eine echte Stichprobe notwendig wäre. Wie das Finanzministerium erläuterte, sind die Betriebe, deren Kennzahlen in die Richtsatzsammlung eingingen, Betriebe, bei denen ohnehin Außenprüfungen durchgeführt würden.
Ein Teil der Außenprüfungen beruhe auf Meldungen durch die zuständigen Finanzämter, ein anderer Teil werde nach Zufallskriterien vom Computer ausgewählt. Auch bei diesen vom Computer zur Prüfung vorgeschlagenen Betrieben werde aber in einem zweiten Schritt manuell von Beamten geprüft, ob der Betrieb prüfungswürdig sei. Wenn dies verneint werde, werde der Betrieb nicht geprüft und seine Daten gehen somit auch nicht in die Richtsatzsammlung ein. Von einer echten Zufallsauswahl, so der BFH, kann also nicht mehr gesprochen werden.
Fazit des BFH – Richtsatzsammlung nur im Notfall
Laut BFH gebe es aufgrund der geschilderten Kritikpunkte keine Gewähr dafür, dass die in der amtlichen Richtsatzsammlung enthaltenen Daten für die jeweilige Gewerbeklasse repräsentativ seien. Folglich sei die amtliche Richtsatzsammlung in ihrer gegenwärtigen Form kein taugliches Instrument für eine Schätzung im Wege des äußeren Betriebsvergleichs. In der Regel ist daher laut BFH der innere Betriebsvergleich im Verhältnis zum äußeren Betriebsvergleich als die zuverlässigere Schätzungsmethode anzusehen.
Für die Richtsatzschätzung würden demzufolge im Grunde nur noch solche Betriebe übrigbleiben, bei denen die vorhandenen Aufzeichnungen derart lückenhaft oder inhaltlich zweifelhaft sind, dass sie für einen inneren Betriebsvergleich nicht geeignet sind.
Weitere Verfahren sind noch beim BFH anhängig
Die Diskussion ist allerdings noch nicht abgeschlossen. Beim BFH ist ein weiteres Verfahren (X R 27/24) anhängig. Es betrifft Detailfragen zur Schätzungsbefugnis bei technischen Zweifeln an der Kasse, zur Bedeutung fehlender Programmierprotokolle und zum Verhältnis zwischen Kassentechnik und Richtsatzsammlung. Auch das Verfahren unter dem Aktenzeichen X R 19/23 ist beim BFH zur Frage anhängig, unter welchen Voraussetzungen eine Schätzung anhand der Richtsatzsammlung des BMF zulässig ist.
Quo vadis, Richtsatzsammlung?
Die Richtsatzsammlung steht im Fokus einer grundlegenden Diskussion. Hintergrund ist, dass die bisherige Schätzungspraxis der Finanzverwaltung auf branchentypischen Durchschnittswerten aus vergangenen Betriebsprüfungen basiert – also auf statischen, pauschalen Daten.
Mit der fortschreitenden Digitalisierung der Buchführung, der verpflichtenden Einführung der E-Rechnung ab 2025 und der zunehmenden Nutzung von künstlicher Intelligenz (KI) in der Finanzverwaltung verändert sich jedoch die Datenbasis grundlegend. Künftig wird die Finanzverwaltung auf wesentlich detailliertere, strukturierte Transaktionsdaten in Echtzeit zugreifen können und Prüfungen mit Hilfe von KI durchführen. Erste Tests laufen bereits.
Auch vor diesem Hintergrund ist fraglich, ob die Richtsatzsammlung in ihrer bisherigen Form noch zeitgemäß ist. Wahrscheinlich wird sie mittelfristig dennoch nicht vollständig entfallen, aber ihre Rolle wird sich wandeln: Von einer verbindlichen Schätzgrundlage hin zu einem Plausibilitäts- und Vergleichswerkzeug, das durch datenbasierte, individuelle Prüfmodelle ergänzt oder ersetzt wird.
Für Unternehmen bedeutet das: Die Finanzverwaltung erhält künftig mehr technische Möglichkeiten, abweichende Kennzahlen automatisiert zu erkennen und zu hinterfragen. Daher wird es immer wichtiger, selbst regelmäßig interne Datenanalysen durchzuführen. Wer seine Kennzahlen kennt und nachvollziehbar dokumentiert, ist bei einer digitalen Betriebsprüfung deutlich besser aufgestellt – unabhängig davon, ob die Schätzung künftig auf Richtsätzen oder auf KI-basierten Modellen beruht.




